Im Gespräch mit … Tatjana Stöckler (2017)

Tatjana Stöckler

Nach vier historischen Romanen rund um die Diebin Luzia begibst du dich mit „Hollas Töchter“ in neue Gefilde. Worum geht es im Kern der Geschichte?

Das Frankenreich expandiert unaufhaltsam, die Sachsen müssen Tribut zahlen, um nicht überrannt zu werden. Doch der Meeresspiegel ist gestiegen und verschlingt das Land, weshalb die wenigen, die nicht geflüchtet sind, selbst ohne die Forderungen der Franken ums Überleben kämpfen. Die Priesterinnen der Holla wissen das sehr wohl, und sie wollen ihrem Volk helfen. Eine diplomatische Heirat erscheint als annehmbarer Ausweg, zumindest als eine Gelegenheit, dass sich die erbitterten Gegner näherkommen, sich kennenlernen. Bevor der Plan in die Tat umgesetzt wird, stirbt die alte Hohepriesterin. Jetzt sieht jeder nur noch, wo seine Vorteile liegen. Sowohl die Sachsen als auch die Franken wählen Menschen für das Projekt aus, auf die sie gut und gerne verzichten möchten. Brune könnte mit ihrer Eigensinnigkeit der neuen Hohepriesterin in die Quere kommen; Arnulf ärgert den fränkischen Gesandten mit seiner notorischen Rechtschaffenheit. Nichts verbindet die beiden, dennoch sollen sie heiraten und eine Burg gründen, die den Grundstein für den Frieden bilden soll. Doch es gibt nur Sumpf, wo das Bauwerk entstehen soll, gleichwohl ist das Land umkämpft und muss gegen Feinde verteidigt werden.

Deine Protagonistin Brune wurde von dir offensichtlich nicht mit einer klassischen Heldenschablone gezeichnet, was sie sehr authentisch macht. Wie würdest du sie beschreiben? Was sind ihre Stärken, was ihre Schwächen?

Brune ist ein zwiespältiger Charakter. Als verwöhnte Tempelschülerin liebt sie ihr Leben und die Genüsse, die es bietet, kann auch mal jähzornig werden, wenn ihr jemand dabei in die Quere kommt. Dennoch bemüht sie sich, die Regeln ihrer Göttin zu befolgen, ist allerdings auch bereit, sie wenn nötig zu beugen. Als Schützling Hollas baut sie auf den Respekt derer, die an die Göttin glauben, vertraut aber nicht blind auf ihre Unberührbarkeit. Die Heirat mit Arnulf bedeutet für sie ein Schockerlebnis, und es fällt ihr schwer, sich damit abzufinden. Doch als sie sich der Bedeutung ihrer Mission bewusst wird, kämpft sie mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, für das Gelingen. Brune zweifelt ständig an sich selbst: Einerseits sieht sie sich in der Rolle als Gemahlin und zukünftige Mutter, andererseits verachtet sie die von Christinnen verlangte Untertänigkeit. Sie wurde erzogen, als Herrin einer Burg den Verteidigern Anweisungen zu erteilen, nicht ängstlich auf deren Schutz zu vertrauen. Doch als Gemahlin eines Christen muss sie ihm und ihrer Umgebung das Gefühl vermitteln, sie sei ihm ergeben. Selbst ihren Glauben an Holla muss sie dem Gehorsam dem Christengott gegenüber unterordnen, weil dessen Priester keine Kompromisse kennen. Dabei würde Brune niemals aufgeben, sie bleibt sich selbst treu. Ein riesiger Zwiespalt, der sich durch die ganze Geschichte zieht.

Deine Geschichte spielt ja im Frühen Mittelalter. Wie schwierig war die Recherche hierfür? Wie ist es dir gelungen, ein so greifbares Bild dieser Zeit zu erschaffen?

Voltaire sagte: »Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.« Schriftstellerische Freiheit ist es, die kleinen Wahrheiten dahinter zu entdecken. Wir werden seit Jahrhunderten mit der Gewissheit erzogen, dass die Welt, in der wir leben, besser ist als die, aus der wir durch mehr oder weniger Gewalt gerissen wurden. Aber woher kommt dann die Nostalgie, das Gefühl, dass es früher doch nicht schlechter war? Über das frühe Mittelalter wissen wir weniger als über das alte Rom oder das alte Ägypten, weil weder das Klima noch die Schreibfreudigkeit unserer Vorfahren die Historiker beglücken. Von den Altsachsen gibt es praktisch keine schriftlichen Hinterlassenschaften, ihre Holzbauten sind zerfallen, wir wissen noch nicht einmal die Namen der meisten Götter, die sie verehrten. Wir kennen sie nur aus den Kriegsberichten derer, die sie besiegten und ihr Land eroberten. Die schilderten sie als barbarisch, primitiv, wertlos – wie es Sieger mit den Besiegten eben tun. Doch die jüngsten archäologischen Funde zeigen ein anderes Bild: ein lebensfrohes, handwerklich hochstehendes Volk, das bedeutenden Handel trieb und sich mit einer Umweltkatastrophe auseinandersetzen musste, die es nahezu auslöschte. Geschichte besteht nicht nur aus Jahreszahlen und Königen, die in Schlachten miteinander kämpften. Manchmal spielte es eine größere Rolle, wie das Wetter war, wie die Ernte ausfiel, und darauf konzentriert sich die Geschichtsforschung heutzutage. Das Land damals sah ganz anders aus als heute: weite Sumpflandschaften, aus denen wenige Hügelspitzen ragten, auf denen Überlebende der Flutkatastrophe sich eine neue Heimat schufen. Die meisten waren geflohen, doch deren Nachkommen kehrten wieder mit dem Glauben an einen einzigen Gott und dem festen Willen, die alte Heimat zurückzuerobern.
Die Recherche war extrem schwierig, weshalb sie auch mehr Zeit brauchte, als ich veranschlagt hatte. Es gibt kaum Aufzeichnungen, die ich zu Rate ziehen konnte. Dafür durfte ich mir einige Freiheiten nehmen, meinem Gefühl vertrauen und mich in die Menschen dieser Epoche hineinversetzen. Ihre Sorgen und Nöte waren ganz anders gelagert als unsere heutzutage, und darum handelten sie auch anders, als wir es heute täten. Wie ein Mensch sich verhält, liegt nicht an nur einem oder zwei Dingen. Je mehr man die Umwelt eines Menschen kennt, seinen Glauben, seine Vorlieben, seine Erziehung, das Essen, Arbeit, Freizeit, desto besser kann man beurteilen, wie er handelt. Das macht einen Charakter lebendig, nicht das Wissen um Feldzüge und Könige.

Einige Autoren schreiben einfach drauflos, andere haben ihren Plot minutiös ausgearbeitet, bevor sie auch nur das erste Wort zu Papier bringen. Wie gehst du vor beim Schreiben eines Romans?

Ich brauche eine Begebenheit, die starke Gefühle in mir auslöst, und darum herum baue ich eine Geschichte. Meine Romane um die Diebin Luzia gründeten sich auf die Empörung, die der Inquisitor Baltasar Noß in mir hinterließ. Die Merseburger Zaubersprüche weckten in mir die Neugier, welches Volk sie geschaffen hat, warum es so spurlos verschwunden ist. Meine Recherche zeigte, dass es doch Spuren gab, Spuren, die zu einer großartigen Geschichte führten. Die Figur der Brune schon sehr früh Gestalt an, eine Frau, die das Christentum nicht kannte, die ohne die Beschränkungen lebte, die einer Frau von der Kirche auferlegt wurden. Arnulf dagegen kannte nichts anderes als das Christentum, wuchs auf als Ziehsohn eines Wanderpriesters, geschützt von einem Söldnerhaufen, dessen Teil er wurde. Diese beiden musste ich nur zusammenkommen lassen, und die Geschichte entspann sich von selbst.
Ich beginne meist einfach mit dem Schreiben und schaue, wie sich alles entwickelt, aber wenn es gut läuft, unterbreche ich und baue ein Gerüst. Darin plane ich manche Szenen schon minutiös, andere nur als roten Faden. Dennoch halte ich mich oft nicht genau an meine eigenen Anweisungen, weil sich die Handlung manchmal in eine andere Richtung bewegt. Da kann es auch gut sein, dass ich ganze Kapitel einfach wegwerfe, weil mir nicht gefällt, wie ein Charakter handelt.

Und wieviel Spielraum lässt du deinen Protagonisten?

Es sind für mich nicht nur Protagonisten. Wenn ich aus der Sicht Brunes schreibe, bin ich Brune, fühle wie Brune, spreche wie Brune und handele wie sie. Das gleiche gilt für Arnulf. Daher haben die Protagonisten alle Freiheiten, die ich mir nehme. Es gibt ein Gerüst, an dem die Handlung sich orientiert, aber wie meine Personen darauf reagieren, liegt ganz an ihnen. Und manchmal entwickeln sie einen so starken Willen, dass sie die Handlung sprengen und ganz anderes tun, als sie sollen. So ging es mir zum Beispiel in den Luzia-Romanen mit Lukas‘ Schwester Magdalene, einer grauen Maus, die sich kaum von ihrem Gebetbuch trennen mochte, und die sich dennoch im vierten Band eine tragende Rolle erstritt. Genauso geht es mir mit Nebenfiguren aus Brunes Umgebung: Sie warten darauf, mehr von sich preiszugeben, eine bessere Rolle zu bekommen, im nächsten Band zu Wort zu kommen.

Auf der Leipziger Buchmesse im Frühjahr 2017 sagtest du, deine inzwischen 4-teilige historische Geschichte um Luzia sei zu Ende erzählt. Hat die sympathische Diebin inzwischen dagegen Einspruch erhoben oder ist sie friedlich in den Ruhestand gegangen?

Dass Luzia in den Ruhestand geht, kann ich nicht glauben. Sie spukt noch immer in meinem Kopf herum und erzählt mir ihre Erlebnisse. Schließlich lebt sie in einer äußerst interessanten Zeit und hat Kinder, die in ihrer unkonventionellen Obhut aufwachsen und sich entwickeln – da spinnen sich noch immer Geschichten zusammen. Doch wann diese sich zwischen zwei Buchdeckeln wiederfinden, weiß ich noch nicht.

Wo treibst du dich schriftstellerisch gerade herum?

Nachdem Hollas Töchter abgeschlossen waren, hatte ich mir eine Pause gönnen wollen, doch in meinem Kopf leben so viele Geschichten, dass ich nicht lange stillhalten kann. Ich möchte mich nicht nur auf Historische Romane beschränken. Für mich besteht der Reiz am Schreiben darin, sich in fremde Charaktere hineinzuversetzen, eine unbekannte Umgebung mit ihnen zu erkunden, ihre persönliche Geschichte zu entdecken. Genau das gefällt mir beim Entwickeln historischer Charaktere, aber auch im Science Fiction oder Fantasy. Es muss nur alles in sich stimmig sein, seiner eigenen Logik folgen. Darum springe ich auch immer wieder zwischen den Genres hin und her, und erst wenn sich ein Roman dem Ende nähert, konzentriere ich mich allein darauf, versetze mich so sehr in die fremde Welt, dass ich kaum noch herauskomme. Darum springe ich im Moment noch zwischen mehreren Projekten hin und her, bis ich mich entscheiden kann, welche Geschichte ich intensiv verfolge. Mit der Welt vor Karl dem Großen hat sich mir ein neues Territorium eröffnet. Brune und Arnulf erweisen sich als zu interessant, sie jetzt schon in einen geruhsamen Lebensabend zu schicken. Ich muss ständig über sie nachdenken – bis eine neue Geschichte aus mir herausfließt.