Meine karolingische Woche

Live-Bericht vom Campus Galli (Yngra Wieland, August 2018)

Ausschnitt aus dem Klosterplan:   Ausschnitt aus dem Klosterplan

Endlich ist es so weit! Ich fahre nach Meßkirch, um sechs Tage ehrenamtlich beim Campus Galli mitzuarbeiten. Seit Tagen fiebere ich auf meinen Ausflug in die Vergangenheit hin. Bei Recherchen bin ich auf das Bauprojekt der karolingischen Klosterstadt gestoßen. Spontan habe ich mich angemeldet – neue Erfahrungen ziehen mich einfach magisch an. Die Klosterstadt wird mit Mitteln des 9. Jahrhunderts auf der Grundlage des St. Galler Klosterplans gebaut. Dieser Plan wurde vor 1200 Jahren von Mönchen auf der Insel Reichenau im Bodensee gezeichnet. Die Bezeichnung erhielt das Projekt von dem Plan, der ursprünglich für St. Gallen bestimmt war. Dort liegt das Original heute in der Stiftsbibliothek.

„Dir, liebster Sohn Gozbert, habe ich diese knappe Aufzeichnung einer Anordnung der Klostergebäude geschickt, damit du daran deine Findigkeit … üben möchtest“, lautet die Widmung des unbekannten Verfassers auf dem einzigartigen Plan.

Besagter Gozbert war 830 n. Ch. Abt in St. Gallen und erbaute dort das Gozbert-Münster. Der St. Galler Klosterplan mit 52 Gebäuden ist die älteste überlieferte Architekturzeichnung des Abendlandes. Es ist einem Zufall zu verdanken, dass der Plan erhalten geblieben ist. Die Rückseite wurde 400 Jahre nach der Entstehung als Notizzettel benutzt, ein Mönch hat das Leben des Heiligen Martins darauf gekritzelt. Was Heilige betraf, wurde streng verwahrt, und so haben wir heute das Glück, dieses Dokument betrachten zu können. Tatsächlich wurde diese Klosterstadt nie gebaut. Bis der inzwischen leider verstorbene Visionär Bert Geurten die Realisierung anging, verging einige Zeit. In unermüdlichem Eifer ging er daran, Menschen für das Projekt zu begeistern. 2012 begannen die ersten Arbeiten auf dem Campus, am 22. Juni 2013 fand die Eröffnungsfeier statt.

Der unbekannte Zeichner des Planes gibt detaillierte Anweisungen, welche Pflanzen gesetzt, welche Tiere gehalten werden sollten, es existieren sogar Anmerkungen zur vorgesehenen Inneneinrichtung einiger Gebäude. Die Anordnung der Gebäude ist vorgegeben, allerdings nur die Grundrisse, über die Höhe wird im Plan nichts ausgesagt. Die Klosterstadt wurde nach dem Ideal eines Klosters nach den Regeln des Heiligen Benedikt geplant.

Ich nehme die Herausforderung an, die Gozbert gestellt wurde, und will ebenfalls meine Findigkeit üben. Viel einzupacken brauche ich nicht, auf Make-Up und Schmuck soll verzichtet werden, die Gewandung wird gestellt, Sicherheitsschuhe sind ein Muss für die Teilnahme. Klobige, schwere Dinger, die dem Auge und wahrscheinlich auch den Füßen nicht viel Freude bereiten.

Formschöne Sicherheitsschuhe  Formschöne Sicherheitsschuhe

Nach guten drei Stunden Fahrt parke ich auf dem Besucherparkplatz. Dort steht nur ein einsames Wohnmobil. Die Sonne brennt bereits um 9 Uhr morgens vom Himmel. Um 9.30 h soll ich mich an der Kasse einfinden.

Auf dem Weg ins 9. Jahrhundert  Auf dem Weg ins 9. Jahrhundert

Ein junger Mann wartet ebenfalls, wir machen uns bekannt, schließlich taucht einer der Campus Galli Mitarbeiter auf und nimmt uns in Empfang. Wir gehen über das Gelände, vorbei an vielen Quadratmeter Bienenbuffet, bekommen einige Informationen, dann erhalten wir Kleidung, eine ausführliche Sicherheitseinweisung und werden mit den Regeln bekannt gemacht. Das Gewand für Männer besteht aus Hose, Tunika, Gürtel und Mütze, für Frauen aus Kleid, Kopftuch, Gürtel, Gürteltasche und Wollumhang. Im Mitarbeiterbereich, nicht zugänglich für die Besucher, stehen Container – ein Aufenthaltsraum, einer zum Umziehen und Duschen für Frauen und einer für Männer. Ich streife das Leinengewand über – fühlt sich gut an.

 

Die Autorin in Gewandung, die wunderschöne Holzkirche, im Hintergrund der Rodungstrupp
Die Autorin in Gewandung, die wunderschöne Holzkirche, im Hintergrund der Rodungstrupp


Die Reise ins 9. Jahrhundert kann beginnen. Ein beinahe feierliches Gefühl ergreift Besitz von mir. Es bleibt feierlich, bis beschlossen wird, dass ich heute den Rodungstrupp verstärke. Roden = schwaches Verb = durch Fällen der Bäume und Ausgraben der Stümpfe Land urbar machen, Wurzeln und Wurzelstöcke ausgraben. Neben der Holzkirche, dem Herzstück der Klosterstadt, muss ein Stück Land gerodet werden, dort soll der Glockenturm erbaut werden. Zwei Männer und eine Frau sind bereits dabei, junge Buchen, Dornengestrüpp und Wurzelwerk zu entfernen, Stämme zu entasten und zersägen. Werkzeug: Wiedehopfhacke, Äxte, Spitzhacke, eine Säge, die zu zweit durch hin– und herziehen benutzt wird. Wie gesagt, die Sonne brennt.

Todesmutig ergreife ich eine der sehr scharfen Äxte und beginne, eine Buche zu entasten. Das tut mir in der Seele weh, schließlich liebe ich Bäume und umarme sie lieber, anstatt sie zu zerstückeln. Augen auf und durch. Die Zweige werden zur Seite gelegt, daran dürfen sich später die Campus-Ziegen laben, gerade Stücke der Stämme bekommt der Drechsler, der Rest ist Feuerholz. Neben mir schwingt eine kräftige Frau im Männergewand grimmig die Axt, als müsse sie sich gegen eine Horde Wikinger verteidigen und mir schwant, was der Mitarbeiter bei der Einweisung mit „schlimmeren Unfällen“ gemeint hat. Da die Axtbewegungen ziemlich unkoordiniert auf mich wirken, entferne ich mich diskret aus der Reichweite der Kollegin und versuche mich an dornigem Gebüsch. Nachdem ich einer Wildrose, einem Weißdorn und einem mir unbekannten Busch den Garaus gemacht habe, fühle ich mich schwummrig. Die Rache der Baumelfen oder die Hitze? Gut, dass zwei junge Rode-Kollegen mich bitten, die zu zersägenden Baumleichen festzuhalten. Nach einer Weile schmerzt mein Rücken, ganz zu schweigen von meinen Händen, die sonst nur sanft über die Tastatur gleiten oder etwas Unkraut aus dem Vorgarten zupfen. Die Säge singt, Insekten summen, der Schweiß rinnt in Strömen. An der Kirche arbeiten mehrere Leute daran, das Dach mit Schindeln einzudecken. Ein seltsames Klopfen ertönt, nach und nach lassen alle von der Arbeit ab. Die Tabula – ein Holzbrett – wird geschlagen zum Zeichen, dass die Mittagspause beginnt.

 

Die Tabula wird geschlagen


Die Tabula wird geschlagen

Die Tabula wird geschlagen


An den wundersamen, hölzernen Klang, der über das ganze Gelände zu hören ist, gewöhne ich mich rasch, das Schlagen der Tabula ist die einzige Orientierung über die Tageszeit. Sie wird um 10, um 13, um 14 und um 18 Uhr geschlagen. Arbeitsbeginn, Mittagspause, Ende der Mittagspause, Ende des Arbeitstages. Ich bin heilfroh, endlich trinken! Vor lauter Eifer habe ich vergessen, mir einen Tonkrug mit Wasser mitzunehmen. Plastikflaschen sind natürlich nicht erlaubt, ebenso wenig wie Handys oder andere neuzeitliche Utensilien. Schließlich sind Besucher auf dem Gelände unterwegs, die nicht durch den Anblick karolingischer Handwerker mit Tablets oder Mobiltelefonen aus ihrer altertümlichen Stimmung gerissen werden sollen. Das Mittagessen wird gegen kleines Entgelt von Mitarbeitern gekocht und ausgegeben, Eintöpfe, Salate, vegi oder mit Fleisch, für jeden wird gesorgt. Hunger habe ich wie eine Bärin. Alle verteilen sich zum Essen an Plastiktischen und Stühlen draußen und drinnen. Die Tischgespräche sind vielseitig, meist witzig, oft auch rau. Menschen von 12 bis 70 plus jeder Profession arbeiten hier, manche festangestellt, manche freiwillig wie ich.

Die Tabula erklingt, es geht weiter. Um sechs kann ich die Hände kaum noch bewegen, hier nennt man das „Playmobil-Hand“. Allerdings geht die Arbeit sehr stressfrei von statten. Ein Wort, das man oft auf dem Campus hört ist „langsam“. Jeder schafft ruhig und konzentriert vor sich hin, geradezu meditativ. Alles wird von Hand gemacht, es geht langsamer als heute, aber die Arbeit ist erfüllend. Man unterstützt sich gegenseitig, sieht, was man am Ende des Tages geschafft hat. Es ist Feierabend, ich suche mein Quartier bei einem der Festangestellten auf, dessen Frau vermietet Zimmer mit Verpflegung. Für Kost und Logis muss man während des Campus-Aufenthaltes selber sorgen. Ich werde herzlich in Empfang genommen und beziehe mein Zimmer. Die heiße Dusche ist einfach nur göttlich. Das gemeinsam eingenommene Essen mundet, außer den Hauseigentümern und mir wohnen zwei weitere Freiwillige hier. Es sind Wiederholungstäter, einer war sogar schon über zehn Mal hier. So erfahre ich viel über den Campus, die Gepflogenheiten und die Geschichte. Eines scheinen alle Menschen, die sich am Campus engagieren gemeinsam zu haben - die Begeisterung für das Projekt und die Geschichte. Müde, aber zufrieden sinke ich ins Bett.

Mein zweiter Tag beginnt mit der morgendlichen Versammlung aller Mitarbeiter. Bis auf einen sehr jungen Mann tragen alle männlichen Mitarbeiter Bärte, die meisten lange, wirre Haare unter den wollenen Kappen. Es ist ruhig, man trinkt Kaffee, raucht, spürt der Nacht nach. Ein Metall wird angeschlagen, die Versammlung beginnt. Einer der Verantwortlichen spricht über die anstehenden Projekte für heute und verteilt die Arbeiten. Ich lande beim Korbflechten, nach der Mittagspause soll ich dem Töpfer zur Hand gehen. Juhu, keine Bäume mehr töten! Die Freiwilligen werden gefragt, ob sie mit ihrer Arbeit noch zufrieden sind, wer nicht mehr kann oder will, bekommt etwas anderes zugeteilt. Neulinge werden begrüßt, Scheidende verabschiedet. Bis auf sehr wenige Ausnahmen sind die Menschen am Campus freundlich und wertschätzend im Umgang untereinander. Von anderen Freiwilligen werde ich auf ein schönes Ritual hingewiesen. Jeden Morgen liest einer der Holzarbeiter vor Arbeitsbeginn an oder in der Holzkirche aus den Regeln des Heiligen Benedikt vor, anschließend tauscht man sich darüber aus. Eine Handvoll Arbeiter hört zu, es ist ein feierlicher Moment. Über das Schindeldach der Kirche flattert ein weißer Schmetterling vor sommerblauem Himmel, eine leichte Brise bewegt die Blätter, es riecht nach dem vergehenden Sommer. Die hölzernen Schläge auf die Tabula ertönen, der Arbeitstag beginnt. Magar, der Korbflechter zeigt mir, wie ich mit dem Boden des Korbes beginne. Reichlich ungeschickt hantiere ich unter skeptischen Blicken mit dem Messer, schaffe es, weder mich noch andere in der Korbflechterhütte zu verletzen – bis auf die Weidenruten, die ich in der Mitte aufschlitze. Die Ruten verströmen einen strengen Geruch, Natur halt. Schweigend flechten wir, nur unterbrochen von den launigen Sprüchen, die Magar den Besuchern mit auf den Weg gibt. Als die Mittagstabula erklingt, habe ich einen guten Teil des Bodens fertig und bekomme ein Lob vom Meister des Korbes.

 

In der Korbmacherhütte:
      Burgenwelt Verlag     Autoren     Interviews     Wieland, Yngra (2018/Live-Bericht Campus Galli)  Meine karolingische Woche  Live-Bericht vom Campus Galli (Yngra Wieland, August 2018)  Ausschnitt aus dem Klosterplan:   Ausschnitt aus dem Klosterplan  Endlich ist es so weit! Ich fahre nach Meßkirch, um sechs Tage ehrenamtlich beim Campus Galli mitzuarbeiten. Seit Tagen fiebere ich auf meinen Ausflug in die Vergangenheit hin. Bei Recherchen bin ich auf das Bauprojekt der karolingischen Klosterstadt gestoßen. Spontan habe ich mich angemeldet – neue Erfahrungen ziehen mich einfach magisch an. Die Klosterstadt wird mit Mitteln des 9. Jahrhunderts auf der Grundlage des St. Galler Klosterplans gebaut. Dieser Plan wurde vor 1200 Jahren von Mönchen gezeichnet auf der Insel Reichenau im Bodensee gezeichnet. Die Bezeichnung erhielt das Projekt von dem Plan, der ursprünglich für St. Gallen bestimmt war. Dort liegt das Original heute in der Stiftsbibliothek.  „Dir, liebster Sohn Gozbert, habe ich diese knappe Aufzeichnung einer Anordnung der Klostergebäude geschickt, damit du daran deine Findigkeit … üben möchtest“, lautet die Widmung des unbekannten Verfassers auf dem einzigartigen Plan.  Besagter Gozbert war 830 n. Ch. Abt in St. Gallen und erbaute dort das Gozbert-Münster. Der St. Galler Klosterplan mit 52 Gebäuden ist die älteste überlieferte Architekturzeichnung des Abendlandes. Es ist einem Zufall zu verdanken, dass der Plan erhalten geblieben ist. Die Rückseite wurde 400 Jahre nach der Entstehung als Notizzettel benutzt, ein Mönch hat das Leben des Heiligen Martins darauf gekritzelt. Was Heilige betraf, wurde streng verwahrt, und so haben wir heute das Glück, dieses Dokument betrachten zu können. Tatsächlich wurde diese Klosterstadt nie gebaut. Bis der inzwischen leider verstorbene Visionär Bert Geurten die Realisierung anging, verging einige Zeit. In unermüdlichem Eifer ging er daran, Menschen für das Projekt zu begeistern. 2012 begannen die ersten Arbeiten auf dem Campus, am 22. Juni 2013 fand die Eröffnungsfeier statt.  Der unbekannte Zeichner des Planes gibt detaillierte Anweisungen, welche Pflanzen gesetzt, welche Tiere gehalten werden sollten, es existieren sogar Anmerkungen zur vorgesehenen Inneneinrichtung einiger Gebäude. Die Anordnung der Gebäude ist vorgegeben, allerdings nur die Grundrisse, über die Höhe wird im Plan nichts ausgesagt. Die Klosterstadt wurde nach dem Ideal eines Klosters nach den Regeln des Heiligen Benedikt geplant.  Ich nehme die Herausforderung an, die Gozbert gestellt wurde, und will ebenfalls meine Findigkeit üben. Viel einzupacken brauche ich nicht, auf Make-Up und Schmuck soll verzichtet werden, die Gewandung wird gestellt, Sicherheitsschuhe sind ein Muss für die Teilnahme. Klobige, schwere Dinger, die dem Auge und wahrscheinlich auch den Füßen nicht viel Freude bereiten.  Formschöne Sicherheitsschuhe  Formschöne Sicherheitsschuhe  Nach guten drei Stunden Fahrt parke ich auf dem Besucherparkplatz. Dort steht nur ein einsames Wohnmobil. Die Sonne brennt bereits um 9 Uhr morgens vom Himmel. Um 9.30 h soll ich mich an der Kasse einfinden.  Auf dem Weg ins 9. Jahrhundert  Auf dem Weg ins 9. Jahrhundert  Ein junger Mann wartet ebenfalls, wir machen uns bekannt, schließlich taucht einer der Campus Galli Mitarbeiter auf und nimmt uns in Empfang. Wir gehen über das Gelände, vorbei an vielen Quadratmeter Bienenbuffet, bekommen einige Informationen, dann erhalten wir Kleidung, eine ausführliche Sicherheitseinweisung und werden mit den Regeln bekannt gemacht. Das Gewand für Männer besteht aus Hose, Tunika, Gürtel und Mütze, für Frauen aus Kleid, Kopftuch, Gürtel, Gürteltasche und Wollumhang. Im Mitarbeiterbereich, nicht zugänglich für die Besucher, stehen Container – ein Aufenthaltsraum, einer zum Umziehen und Duschen für Frauen und einer für Männer. Ich streife das Leinengewand über – fühlt sich gut an.     Die Autorin in Gewandung, die wunderschöne Holzkirche, im Hintergrund der Rodungstrupp Die Autorin in Gewandung, die wunderschöne Holzkirche, im Hintergrund der Rodungstrupp   Die Reise ins 9. Jahrhundert kann beginnen. Ein beinahe feierliches Gefühl ergreift Besitz von mir. Es bleibt feierlich, bis beschlossen wird, dass ich heute den Rodungstrupp verstärke. Roden = schwaches Verb = durch Fällen der Bäume und Ausgraben der Stümpfe Land urbar machen, Wurzeln und Wurzelstöcke ausgraben. Neben der Holzkirche, dem Herzstück der Klosterstadt, muss ein Stück Land gerodet werden, dort soll der Glockenturm erbaut werden. Zwei Männer und eine Frau sind bereits dabei, junge Buchen, Dornengestrüpp und Wurzelwerk zu entfernen, Stämme zu entasten und zersägen. Werkzeug: Wiedehopfhacke, Äxte, Spitzhacke, eine Säge, die zu zweit durch hin – und herziehen benutzt wird. Wie gesagt, die Sonne brennt.  Todesmutig ergreife ich eine der sehr scharfen Äxte und beginne, eine Buche zu entasten. Das tut mir in der Seele weh, schließlich liebe ich Bäume und umarme sie lieber, anstatt sie zu zerstückeln. Augen auf und durch. Die Zweige werden zur Seite gelegt, daran dürfen sich später die Campus-Ziegen laben, gerade Stücke der Stämme bekommt der Drechsler, der Rest ist Feuerholz. Neben mir schwingt eine kräftige Frau im Männergewand grimmig die Axt, als müsse sie sich gegen eine Horde Wikinger verteidigen und mir schwant, was der Mitarbeiter bei der Einweisung mit „schlimmeren Unfällen“ gemeint hat. Da die Axtbewegungen ziemlich unkoordiniert auf mich wirken, entferne ich mich diskret aus der Reichweite der Kollegin und versuche mich an dornigem Gebüsch. Nachdem ich einer Wildrose, einem Weißdorn und einem mir unbekannten Busch den Garaus gemacht habe, fühle ich mich schwummrig. Die Rache der Baumelfen oder die Hitze? Gut, dass zwei junge Rode-Kollegen mich bitten, die zu zersägenden Baumleichen festzuhalten. Nach einer Weile schmerzt mein Rücken, ganz zu schweigen von meinen Händen, die sonst nur sanft über die Tastatur gleiten oder etwas Unkraut aus dem Vorgarten zupfen. Die Säge singt, Insekten summen, der Schweiß rinnt in Strömen. An der Kirche arbeiten mehrere Leute daran, das Dach mit Schindeln einzudecken. Ein seltsames Klopfen ertönt, nach und nach lassen alle von der Arbeit ab. Die Tabula – ein Holzbrett – wird geschlagen zum Zeichen, dass die Mittagspause beginnt.     Die Tabula wird geschlagen   Die Tabula wird geschlagen  Die Tabula wird geschlagen   An den wundersamen, hölzernen Klang, der über das ganze Gelände zu hören ist, gewöhne ich mich rasch, das Schlagen der Tabula ist die einzige Orientierung über die Tageszeit. Sie wird um 10, um 13, um 14 und um 18 Uhr geschlagen. Arbeitsbeginn, Mittagspause, Ende der Mittagspause, Ende des Arbeitstages. Ich bin heilfroh, endlich trinken! Vor lauter Eifer habe ich vergessen, mir einen Tonkrug mit Wasser mitzunehmen. Plastikflaschen sind natürlich nicht erlaubt, ebenso wenig wie Handys oder andere neuzeitliche Utensilien. Schließlich sind Besucher auf dem Gelände unterwegs, die nicht durch den Anblick karolingischer Handwerker mit Tablets oder Mobiltelefonen aus ihrer altertümlichen Stimmung gerissen werden sollen. Das Mittagessen wird gegen kleines Entgelt von Mitarbeitern gekocht und ausgegeben, Eintöpfe, Salate, vegi oder mit Fleisch, für jeden wird gesorgt. Hunger habe ich wie eine Bärin. Alle verteilen sich zum Essen an Plastiktischen und Stühlen draußen und drinnen. Die Tischgespräche sind vielseitig, meist witzig, oft auch rau. Menschen von 12 bis 70 plus jeder Profession arbeiten hier, manche festangestellt, manche freiwillig wie ich.  Die Tabula erklingt, es geht weiter. Um sechs kann ich die Hände kaum noch bewegen, hier nennt man das „Playmobil-Hand“. Allerdings geht die Arbeit sehr stressfrei von statten. Ein Wort, das man oft auf dem Campus hört ist „langsam“. Jeder schafft ruhig und konzentriert vor sich hin, geradezu meditativ. Alles wird von Hand gemacht, es geht langsamer als heute, aber die Arbeit ist erfüllend. Man unterstützt sich gegenseitig, sieht, was man am Ende des Tages geschafft hat. Es ist Feierabend, ich suche mein Quartier bei einem der Festangestellten auf, dessen Frau vermietet Zimmer mit Verpflegung. Für Kost und Logis muss man während des Campus-Aufenthaltes selber sorgen. Ich werde herzlich in Empfang genommen und beziehe mein Zimmer. Die heiße Dusche ist einfach nur göttlich. Das gemeinsam eingenommene Essen mundet, außer den Hauseigentümern und mir wohnen zwei weitere Freiwillige hier. Es sind Wiederholungstäter, einer war sogar schon über zehn Mal hier. So erfahre ich viel über den Campus, die Gepflogenheiten und die Geschichte. Eines scheinen alle Menschen, die sich am Campus engagieren gemeinsam zu haben - die Begeisterung für das Projekt und die Geschichte. Müde, aber zufrieden sinke ich ins Bett.  Mein zweiter Tag beginnt mit der morgendlichen Versammlung aller Mitarbeiter. Bis auf einen sehr jungen Mann tragen alle männlichen Mitarbeiter Bärte, die meisten lange, wirre Haare unter den wollenen Kappen. Es ist ruhig, man trinkt Kaffee, raucht, spürt der Nacht nach. Ein Metall wird angeschlagen, die Versammlung beginnt. Einer der Verantwortlichen spricht über die anstehenden Projekte für heute und verteilt die Arbeiten. Ich lande beim Korbflechten, nach der Mittagspause soll ich dem Töpfer zur Hand gehen. Juhu, keine Bäume mehr töten! Die Freiwilligen werden gefragt, ob sie mit ihrer Arbeit noch zufrieden sind, wer nicht mehr kann oder will, bekommt etwas anderes zugeteilt. Neulinge werden begrüßt, Scheidende verabschiedet. Bis auf sehr wenige Ausnahmen sind die Menschen am Campus freundlich und wertschätzend im Umgang untereinander. Von anderen Freiwilligen werde ich auf ein schönes Ritual hingewiesen. Jeden Morgen liest einer der Holzarbeiter vor Arbeitsbeginn an oder in der Holzkirche aus den Regeln des Heiligen Benedikt vor, anschließend tauscht man sich darüber aus. Eine Handvoll Arbeiter hört zu, es ist ein feierlicher Moment. Über das Schindeldach der Kirche flattert ein weißer Schmetterling vor sommerblauem Himmel, eine leichte Brise bewegt die Blätter, es riecht nach dem vergehenden Sommer. Die hölzernen Schläge auf die Tabula ertönen, der Arbeitstag beginnt. Magar, der Korbflechter zeigt mir, wie ich mit dem Boden des Korbes beginne. Reichlich ungeschickt hantiere ich unter skeptischen Blicken mit dem Messer, schaffe es, weder mich noch andere in der Korbflechterhütte zu verletzen – bis auf die Weidenruten, die ich in der Mitte aufschlitze. Die Ruten verströmen einen strengen Geruch, Natur halt. Schweigend flechten wir, nur unterbrochen von den launigen Sprüchen, die Magar den Besuchern mit auf den Weg gibt. Als die Mittagstabula erklingt, habe ich einen guten Teil des Bodens fertig und bekomme ein Lob vom Meister des Korbes.       In der Korbmacherhütte



In der Korbmacherhütte

 


Nach der Mittagspause schlendere ich zur Töpferei. Auf dem Campus geht es bedächtig zu. Angefangen bei der meist schwäbischen Mundart, über die Arbeitsweise, ich höre niemanden schreien oder sehe jemanden rennen, sogar die Besucher scheinen sich von der Atmosphäre der Bedachtsamkeit anstecken zu lassen. Sehr oft hört man die Worte „nur die Ruhe, langsam“ – Balsam für jede gestresste Seele. Dazu das Zwitschern der Vögel, der wohlklingende Ton des Ambosses aus der Schmiede, einfach schön.

In der Töpferei darf ich damit beginnen, einen Topf zu machen. Aufbaukeramik ist der Fachbegriff. Es gibt zwar auch ein Töpferrad, aber dafür muss man wirklich geübt sein. Das letzte Mal habe ich mit mäßigem Erfolg in der fünften Klasse getöpfert. Enthusiastisch beginne ich Wülste zu formen und aufeinander zu setzen. Na ja. Langsam nimmt das Ding die Form eines karolingischen Topfes an. Vermutlich hätte ich im 9. Jahrhundert mit diesem Handwerk nicht überlebt. Am Nachmittag setzt heftiger Regen ein, das Rindendach der Werkhütte ist undicht. Mein beinahe fertiger Topf wird zu nass und sackt in sich zusammen wie ein misslungenes Soufflé. Der Töpfermeister entlässt mich - nicht wegen meines lausigen Topfes, sondern wegen schlechten Wetters und ich gehe zurück zum Korbflechter, der hat ein Schindeldach über dem Kopf und es ist trocken. Am Ende des Tages habe ich den Korbboden fertig.

Die Töpferwerkstatt, hinten links das Töpferrad  Die Töpferwerkstatt, hinten links das Töpferrad

Am nächsten Tag ist mir der Ablauf schon vertraut. Es tut mir gut, mich in einen festgelegten Rhythmus zu fügen, einmal selbst nichts entscheiden zu müssen, das zu tun, was ansteht. Der Töpfer Martin ist Archäologe, Historiker und ein Meister seines Faches. Er ist eine unerschöpfliche Quelle des Wissens über frühmittelalterliche Keramik und Gepflogenheiten des Töpferhandwerks und ich könnte stundenlang zuhören. Nebenbei lausche ich seinen Ausführungen für die Besucher, die mit vielen Fragen kommen. Meist sehr freundliche Menschen, die sogar zuerst fragen, ob sie uns fotografieren dürfen. Alle Mitarbeiter sind angehalten, die Fragen der Besucher „möglichst fachkundig und freundlich“ zu beantworten und das tue ich. Was ich nicht weiß, frage ich den Fachmann und das geruhsame vor mich hin töpfern und plaudern mit Besuchern macht mir viel Spaß. Mittlerweile geht es auch schon deutlich besser mit dem Töpfern und am Ende des Tages habe ich die Rohform eines Topfes vollendet.

DER Topf  DER Topf


In diesem Rhythmus geht es in den nächsten Tagen weiter. Mit einem zweirädrigen Karren transportieren wir Holz aus dem Wald zur Töpferwerkstatt, ein Brand wird vorbereitet. Ich lerne, Reisigbüschel zu machen, dafür wird eine Mischung aus Nadel- und Laubreisig auf bestimmte Art mit Weidenruten zusammengebunden. Hört sich einfach an, ist es aber nicht, die Weidenruten reißen immer wieder und die Axt ist stumpf. „Was machen Sie da?“, fragen manche Besucher. „Wonach sieht es denn aus?“, möchte ich raunzen, aber ich erinnere mich an Punkt 2 im Umgang mit Besuchern (fachkundig und freundlich) und erkläre lächelnd, was ich vorhabe. Der eine oder andere Blick sagt mir, dass ich einer wahnsinnigen Axtmörderin aus einem Hitchcock-Film ähnele. Der Schmied geht vorbei, sieht mein Elend und erbarmt sich. Er erklärt mir, wie es besser geht und schärft obendrein die Axt. Trotzdem tun mir am Ende des Tages die Arme weh und ich habe eine Blase an der Hand. Aber: ich habe eine ganze Reihe Bündel geschaffen. Vielen älteren Besuchern geht ein Strahlen über das Gesicht, als sie mich arbeiten sehen – sie kennen die Büschel noch aus ihrer Kindheit und erzählen mir Geschichten darüber. Dann vollende ich meinen zweiten Topf, der richtig gut geworden ist und stemple stolz das Wahrzeichen des Campus, den Schlüssel, in den Boden, damit werden alle hier gefertigten Werkstücke versehen.

 

Der Karren wird zum Fuhrpark zurückgebracht
Der Karren wird zum Fuhrpark zurückgebracht



Einmal kann ich bei einer Führung mitgehen, um auch den Rest des Campus kennen zu lernen. Als die Führerin mitbekommt, dass ich ein bisschen Pflanzenwissen habe, bittet sie mich, bei manchen Stationen etwas zu sagen, und das tue ich sehr gerne, an Sprechen vor Menschen bin ich schließlich gewöhnt, die Rampensau in mir erwacht. Über zwanzig Stationen gibt es, Schreiner, Hühnerstall, Schmied, Kräutergarten, Bienen, Drechsler, Schweine, Ziegen, Schafe, Seiler, Schindelmacher, Färberei, Weber und einiges mehr. Sogar einen Friedhof, der praktischerweise auch gleich der Obstgarten ist, umgeben von einer wunderschönen Steinmauer. Diese dient dazu, die Tiere, die meist frei herumlaufen, auszusperren. Aussperren statt einsperren – ein interessantes Konzept, gefällt mir. Zwischen den Gräbern sollen in Zukunft Obstbäume stehen. Ob Walnuss, Feige, Pfirsich, Mandel- und Maulbeerbaum im rauen schwäbischen Klima wachsen werden? Im Augenblick steht nur ein Holunder mittendrin – das Tor zur Anderswelt, Frau Holle lässt grüßen. Zufall oder Absicht? Es ist offiziell nicht in Planung, jemanden hier zu bestatten, aber wer weiß…

Meine karolingische Woche neigt sich dem Ende zu. Zwar vermisse ich Familie, Katzen und Heim, trotzdem legt sich Wehmut auf mein Herz. Ich habe mich geborgen gefühlt, interessante Menschen kennengelernt, ich konnte etwas zum Projekt beitragen und habe viel Wissen und schöne Augenblicke mitgenommen. Besonders habe ich genossen, dass ich mir nie Gedanken machen musste, was ich morgens anziehe oder ob ein bad-hair-day ist. Verschwitztes, dreckiges Leinengewand überstreifen, Kopftuch auf – fertig. Eines ist sicher – ich bin mit dem Virus Campus Galli infiziert und werde wiederkommen, wie viele andere auch. Schließlich muss ich noch etliche andere Handwerke ausprobieren und zu tun gibt es die nächsten vierzig bis sechzig Jahre genug.

Statt Handtasche der Wasserkrug   Statt Handtasche der Wasserkrug